Alter Wirkstoff, neuer Nutzen
Ein als Antidepressivum zugelassenes Medikament soll die Therapie einer speziellen Form der Leukämie verträglicher machen. Ärzte und Wissenschaftler des Deutschen Krebskonsortiums (DKTK) möchten damit Patienten, bei denen etablierte Methoden nicht mehr wirken, eine neue Option für die Behandlung geben.
Es ist die aggressivste Blutkrebsform bei Erwachsenen, die sogenannte akute myeloische Leukämie (AML). Anders als eine chronische Leukämie tritt sie plötzlich auf, und der Zustand der Patienten verschlechtert sich binnen weniger Tage. Anstatt zu roten und weißen Blutkörperchen auszureifen, teilen sich Stammzellen des Knochenmarks ungehemmt zu unreifen Vorläuferzellen. Um die Leukämiezellen zurückzudrängen, erhalten die Patienten dann eine Chemotherapie. In vielen Fällen überleben jedoch einzelne Zellen, und die Krankheit kann wieder aufflammen. Zwar lassen sich auch in solchen Situationen mit Stammzelltransplantationen noch Heilungen erzielen, aber selbst diese derzeit effektivste Therapiemethode gegen die AML kann nicht allen Patienten helfen. Neue wirkungsvolle Therapieansätze sind deshalb dringend erforderlich.
Vor einigen Jahren sorgten die Ergebnisse zweier Studien für neue Hoffnung: Im Jahr 2012 gelang es Wissenschaftlern erstmals, Leukämiezellen von Mäusen mit sogenannten LSD1-Hemmern wieder ausreifen zu lassen. Das Enzym Lysin-spezifische Demethylase 1 (LSD1) spielt bei der Ausreifung eine wichtige Rolle, indem es beeinflusst, welche der daran beteiligten Gene abgelesen werden.
Bereits zugelassene Wirkstoffe beschleunigen die Entwicklung
Die Resultate veranlassten Ärzte und Forscher im Deutschen Krebskonsortium, sich in einer Forschungsinitiative zusammenzuschließen, um nach neuen LSD1-Hemmern zu suchen. Ein gut verträglicher Kandidat stand mit dem Wirkstoff Tranylcypromin (TCP) bereits zur Verfügung. Für die Behandlung von Depressionen war die Substanz in der Psychiatrie schon seit Jahren zugelassen. „In Zellkulturen und Mäusen konnten wir zeigen, dass sich mit TCP auch das Wachstum von AML-Zellen ausbremsen lässt, insbesondere wenn man die Substanz mit dem Vitamin A-Abkömmling ATRA kombiniert“, erklärt der Mediziner Tobias Berg vom Universitätsklinikum Frankfurt.
Mittlerweile bieten die Ärzte AML-Patienten, bei denen die etablierten Therapien nicht mehr wirken, die TCP/ATRA-Kombinationstherapie in einer klinischen Studie an. Der Ansatz der TRANSATRA-Studie besteht darin, TCP mit ATRA und einer niedrigdosierten Chemotherapie zu kombinieren. „Ein großer Vorteil ist, dass die Nebenwirkungen von TCP bereits sehr gut erforscht sind“, sagt Michael Lübbert, Leiter der klinischen Studie am Universitätsklinikum Freiburg. „In die Verträglichkeitsstudie haben wir 22 Patienten eingeschlossen und alle haben die Behandlung vertragen. Auch bei hohen Dosen konnten wir keine gravierenden Nebenwirkungen feststellen.“ Mittlerweile ist die Studie an den DKTK-Standorten Freiburg, Düsseldorf, Frankfurt, Heidelberg, München und Tübingen angelaufen. Der nächste Schritt besteht nun darin, die Wirksamkeit der Therapie zu prüfen.
Könnte AML mit diesem Ansatz vollständig geheilt werden? „Das wäre unrealistisch“, sagt Lübbert. „Aber wenn wir die AML-Zellen im Knochenmark stark zurückdrängen und die Produktion von gesunden Blutzellen anstoßen können, ist den Patienten bereits sehr geholfen.“ Ihr Immunsystem könnte dann zum Beispiel wieder besser gegen Infektionen vorgehen. „Darüber hinaus kann eine gut verträgliche Behandlung der AML eine sehr sinnvolle Zwischentherapie sein, damit die Patienten in einem gutem Allgemeinzustand bleiben, bevor sie eine Blutstammzelltransplantation erhalten“, ergänzt Lübbert.
Wissenschaftler und Ärzte arbeiten Hand in Hand
Wie wertvoll es ist, wenn Ärzte und Forscher eng zusammenarbeiten, zeigen aktuelle Ergebnisse von Tobias Berg und seinen Kollegen. In einem gemeinsamen Projekt mit den Gruppen von Roland Schüle, Manfred Jung, Michael Lübbert und Cyrus Khandanpour konnten die Wissenschaftler in Maus- und Zellmodellen zeigen, dass es nicht per se ausreicht, LSD1 zu inaktivieren. Denn nur ganz bestimmte LSD1-Hemmer waren in der Lage, das Wachstum der Leukämiezellen stoppen. Die beste Wirksamkeit erzielten die Forscher mit chemisch veränderten Varianten von TCP. „LSD1-Hemmer inaktivieren das Enzym auf unterschiedliche Weise und können dadurch unterschiedliche molekulare Antworten in den Zellen auslösen“, erklärt Tobias Berg. „Das könnte auch erklären, warum die Behandlung mit LSD1-Hemmern bisher nur bei einigen Unterformen der AML anschlägt.“
Die neuen Inhibitoren für seine Tests erhält Tobias Berg aus Freiburg. Das Institut für Pharmazeutische Wissenschaften der Universität Freiburg stellt dort unter der Leitung von Manfred Jung optimierte TCP-Varianten her, die bestimmte unerwünschte Effekte der Substanz nicht mehr zeigen. Das geschieht auf der Basis von 3-D-Modellierungen, die zeigen sollen, wie LSD1 mit den unterschiedlichen Substanzen wechselwirkt. „Das Interesse an dieser Wirkstoffgruppe ist groß, und weitere TCP-Varianten werden auch bereits von Pharmafirmen in klinischen Studien in der Krebstherapie getestet“, sagt Manfred Jung.
Ärzte und Wissenschaftler aus der Grundlagenforschung, der Pharmazie und der klinischen Praxis spielen sich so ständig die Bälle zu. „Die Entwicklung therapeutischer Ansätze verläuft nicht nur in Richtung Klinik, sondern geht auch immer wieder zurück ins Labor, um die Behandlungen zu optimieren“, betont Tobias Berg. In Phase II der Studie will er mithilfe genetischer Analysen klären, warum die Behandlung bei manchen Patienten besser anschlägt als bei anderen. „Wir werden vor und nach der Behandlung Zellen entnehmen, um vergleichen zu können, welche Gene in den Zellen der Patienten an- und ausgeschaltet werden. So können wir hoffentlich in Zukunft vorhersagen, welche Patienten auf die Therapie ansprechen werden.“
// Alexandra Moosmann