Gemeinsam zum Ziel
Jährlich sterben europaweit etwa 6.000 Kinder und Heranwachsende an Krebs. Das internationale Projekt ITCC-P4 bringt private und öffentliche Institutionen sowie Unternehmen zusammen, um neue Medikamente für Kinder mit schwer behandelbaren Tumoren schneller entwickeln zu können.
„Einer für alle, alle für einen“ ist das vielzitierte Motto der drei Musketiere in dem gleichnamigen Abenteuerroman von Alexandre Dumas. Es gibt derzeit ein internationales Forschungsprojekt, für das es auch gelten könnte. Denn dabei haben alle beteiligten Partner aus Forschungsinstitutionen, Pharmaunternehmen und Biotech-Firmen ein gemeinsames Ziel: den Kampf gegen Krebserkrankungen von Kindern zu gewinnen. Das Projekt nennt sich ITCC-P4. Der Anfang seines Namens steht für „Innovative Therapies for Children with Cancer“, die vier Ps für „Paediatric Preclinical Proof-of-Concept Platform“. Das klingt zwar etwas sperrig, dafür transportieren die Worte aber schon vieles von dem, was das neue Projekt erreichen möchte. Die Forscher suchen nach innovativen Therapien, die Tumoren von Kindern zielgenau angreifen und dabei möglichst nebenwirkungsarm sind. Dazu möchten sie eine Plattform schaffen, mit deren Hilfe neue Wirkstoffe gegen die verschiedensten Formen von soliden Kinderkrebserkrankungen getestet werden können. Der Kinderonkologe Stefan Pfister koordiniert zusammen mit Louis Stancato vom Pharmaunternehmen Eli Lilly das zu Beginn des Jahres 2017 gestartete Projekt. Pfister ist Direktor des Präklinischen Programms am Hopp-Kindertumorzentrum Heidelberg (KiTZ), er leitet im DKFZ die Abteilung Pädiatrische Neuroonkologie und arbeitet außerdem als Oberarzt am Universitätsklinikum Heidelberg. Der Mediziner hat bereits unzählige Kinder mit bösartigen Erkrankungen kennengelernt und es sich als Forscher und Arzt zur Lebensaufgabe gemacht, ihnen zu helfen.
Bisher wenig Forschung für solide Tumoren bei Kindern
Krebs ist bei Kindern die häufigste krankheitsbedingte Todesursache. Zwar gibt es bereits für viele Tumorarten wirksame Medikamente, aber etwa ein Viertel der betroffenen Kinder erleidet einen Rückfall. Spätestens dann sind die Behandlungsoptionen rar. „Wir können heute vielen Kindern mit einer Operation, Chemotherapie oder Bestrahlung beziehungsweise mit einer Kombination dieser Behandlungen das Leben retten“, sagt er, „aber nicht selten müssen sie danach mit schweren Einschränkungen leben.“ Viele der Therapien sind außerdem ursprünglich für erwachsene Patienten entwickelt und getestet worden. Die Biologie der Tumorerkrankungen im Kindesalter ist aber häufig fundamental anders. „Einige pädiatrische Krebsarten sind so selten, dass es dazu kaum Forschung gibt“, erklärt die Biologin Anna- Lisa Böttcher, die Pfister als wissenschaftliche Projektmanagerin im DKFZ bei der Organisation des ITCC-P4 unterstützt. Das ist besonders bei den sogenannten soliden Tumoren der Fall. Deshalb hat die Europäische Kommission zusammen mit dem Verband der europäischen Pharmaindustrie das über fünf Jahre laufende Projekt initiiert. Den Statuten der „Innovative Medicine Initiative 2“ entsprechend, wird es als Public Private Partnership zu gleichen Teilen von beiden Seiten finanziert. Insgesamt stehen über 16 Millionen Euro zur Verfügung, um zehn solide pädiatrische Tumorarten exakt zu charakterisieren und jeweils 40 verschiedene Krankheitsmodelle zu erstellen. So erhoffen sich die Wissenschaftler, Angriffspunkte – sogenannte Targets – zu finden, um Tumorzellen mit passenden Medikamenten angreifen zu können. „Kindliche Tumoren sind in vielen Fällen weniger komplex, sodass sich im Vergleich zu Erwachsenen manchmal sogar leichter entscheiden lässt, an welchen Stellen die Tumoren verwundbar sind“, erklärt Böttcher.
400 Tumormodelle für Forscher weltweit
Im Labor untersuchen die Forscher die Wirkung solcher neuen Stoffe auf die Krebszellen. Doch diese Experimente sagen noch nicht viel darüber aus, welche Effekte sie auf einen vollständigen Tumor oder gar einen Organismus haben. Deshalb pflanzen die Wissenschaftler die Zellen in Mäuse ein und gewinnen auf diese Weise patientenindividuelle Tumormodelle. Mithilfe dieser Modelle können die am Projekt beteiligten Pharmafirmen dann die neu entwickelten Substanzen auf ihre Verträglichkeit und Wirksamkeit testen, bevor sie in ersten klinischen Studien bei erkrankten Kindern zum Einsatz kommen. Insgesamt 400 vollständig charakterisierte Modelle sollen es am Ende des Projekts sein, die sie langfristig als Testplattform auch weltweit anderen Wissenschaftlern und Firmen zur Verfügung stellen wollen. „Wir hoffen, dass diese Testplattform in Zukunft eine wichtige Filterfunktion einnehmen wird, bevor Medikamente das erste Mal bei Kindern eingesetzt werden, um die wirksamsten Therapieoptionen möglichst im Voraus herauszufinden“, sagt Böttcher. Pfister und sein Team haben sich bei ihrer Arbeit im DKFZ auf kindliche Krebsarten des Gehirns spezialisiert und im Rahmen des Projekts bereits etwa 50 Modelle für verschiedene Hirntumoren entwickelt. Die Krebszellen stammen unter anderem von jungen Patienten, die diese mit dem Einverständnis ihrer Eltern gespendet haben. Die Kinder selbst werden zwar wahrscheinlich nicht mehr von der Forschung an ihren Zellen profitieren, denn sie brauchen eine rasche Therapie und haben nicht die Zeit, auf die Studienergebnisse zu warten. Aber anderen Kindern und deren Familien kann ihre Spende möglicherweise
viel Leid ersparen.
Hirntumoren haben genetische Besonderheiten
Hirntumoren und deren Behandlungen ziehen oft schwerwiegende Spätfolgen für die Kinder nach sich. Selbst wenn der Krebs nicht bösartig ist, kann der Druck im Kopf gefährlich ansteigen und die Funktion von Gehirn und Nerven stören. Viele der geheilten Kinder leiden zum Beispiel unter Bewegungsstörungen, die ihre Lebensqualität erheblich einschränken. Pfister erforscht schon seit vielen Jahren das Erbgut von kindlichen Hirntumoren. Er hat unter anderem herausgefunden, dass einige pädiatrische Krebsarten des Gehirns genetische Besonderheiten aufweisen. Sein großes Ziel ist es, durch diese Kenntnisse eines Tages für jede Erkrankungsart eine spezifisch auf diese ausgerichtete, möglichst schonende Therapie zur Verfügung zu haben. „Aus Sicht eines Kinderonkologen ist das ITCC-P4-Projekt ideal, um die forschungsgetriebene Entwicklung neuer Medikamente für Hochrisiko-Krebsarten bei Kindern voranzubringen – in einem europaweiten, gemeinsamen Kraftakt", sagt Pfister. Auch in London, Paris, Rom, Zürich, Utrecht, Wien, Berlin und Barcelona charakterisieren Wissenschaftler kindliche Tumoren, jeweils auf unterschiedliche Krebsarten spezialisiert, und stellen Tumormodelle her. 21 Partner aus acht Staaten sind am ITCC-P4 beteiligt. Wöchentlich finden Telefonkonferenzen statt, zum Beispiel um zu entscheiden, welche Modelle über die internationale Plattform zur Verfügung gestellt werden. Über ihre Forschungsergebnisse berichten die Forscher regelmäßig an die Europäische Kommission und auf internationalen Konferenzen. So viele Vertreter aus verschiedenen Institutionen und Unternehmen haben oftmals unterschiedliche Interessen. Bei ITCC-P4 ziehen sie an einem Strang. Davon ist zumindest Böttcher überzeugt. „Egal, um welchen Partner es sich handelt“, sagt sie, „alle sind hochmotiviert, wirklich zu Ergebnissen zu kommen, um für krebskranke Kinder bestmögliche Therapien zu finden.“
// Dorothee Schulte