Die molekularen Details verstehen
Die Mitarbeiter der Abteilung Molekulare Grundlagen thorakaler Tumoren untersuchen Veränderungen des Erbguts, die bei Lungenkrebs und auch bei anderen Krebsarten eine Rolle spielen. Wie entsteht und entwickelt sich die Erkrankung und weshalb werden manche Tumoren resistent gegen Medikamente?
Madrid, New York, Rom. In diesen Weltmetropolen forschte die Spanierin Rocio Sotillo, bevor sie vor drei Jahren entschied, ihre wissenschaftliche Karriere in Heidelberg fortzusetzen. „Dass ich Wissenschaftlerin werden will, war mir schon früh klar“, erinnert sie sich. Während des Studiums in Madrid verbrachte sie bereits den größten Teil ihrer Zeit im Labor. Im DKFZ leitet sie nun die Abteilung Molekulare Grundlagen thorakaler Tumoren. Wie Sotillo stammen die meisten ihrer insgesamt 15 Mitarbeiter nicht aus Deutschland. „Ich denke, dass die verschiedenen Herkunftsländer das Team bereichern“, sagt Sotillo, „denn jeder bringt ganz unterschiedliche Ideen und Arbeitsweisen in die Gruppe ein, was für die Forschung auf jeden Fall hilfreich ist.“ Die Molekularbiologin hat das selbst bereits während ihrer Zeit am Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York eindrücklich erfahren. Die dortige Arbeitsgruppe war ebenfalls sehr international aufgestellt. Und es gab noch eine weitere Gemeinsamkeit mit ihrer jetzigen Tätigkeit: der regelmäßige Austausch mit Ärzten. Das New Yorker Labor befand sich direkt in einer Klinik. „Der ständige Kontakt mit Ärzten war sehr inspirierend für meine Arbeit“, so Sotillo. Seither liegt ihr der Erfahrungsaustausch mit den Medizinern sehr am Herzen: „Nur so erfährt man wirklich etwas über die Probleme und Herausforderungen bei der Behandlung von Patienten.“ Und dieses Wissen sei wichtig, damit die Forschungsergebnisse auch zu neuen Therapien führen. „Die Möglichkeit, mit denjenigen zu kooperieren, die täglich Patienten behandeln, war für mich ein wichtiger Grund, nach Heidelberg zu gehen“, betont Sotillo. Denn hier arbeitet sie nun eng mit den Ärzten aus der Thoraxklinik der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg zusammen. Über das Deutsche Zentrum für Lungenforschung (DZL) ist die Abteilung zudem mit Gruppen in ganz Deutschland vernetzt, die sich ebenfalls mit Lungenerkrankungen beschäftigen.
Das Team nutzt aber auch die Expertise im eigenen Haus. Gemeinsam mit Bioinformatikern aus der Forschungsgruppe von Christoph Plass analysiert der Postdoc Yuanyuan Chen Daten aus Laborexperimenten, um etwas über die Entstehung von Lungenkrebs zu erfahren. Der aus China stammende Molekularbiologe versucht dabei, ganz an den Anfang zu blicken: Lässt sich herausfinden, welche einzelne Zelle der Ursprung der Erkrankung ist? Daneben befasst er sich – wie fast alle seine Kollegen auch – mit einem Phänomen, das sich in vielen Tumorzellen beobachten lässt: die sogenannte Aneuploidie. „Aneuploidie entsteht dann, wenn sich die Chromosomen bei der Zellteilung ungleichmäßig auf die beiden Tochterzellen verteilen“, erklärt Lorena Salgueiro, die ebenfalls als Postdoc in der Abteilung arbeitet. Die Tochterzellen verfügen dann über einen fehlerhaften Chromosomensatz, in dem einzelne Erbgutträger zusätzlich vorhanden sind oder fehlen. „Wir erforschen, wie die Aneuploidie die Entwicklung von Tumoren und ihre Reaktion auf Medikamente beeinflusst“, so Salgueiro. Dazu betrachten die Wissenschaftler neben dem Krebsgewebe selbst auch die direkte Umgebung des Tumors und darüber hinaus das gesamte Immunsystem. Salgueiro entwickelt neue Kultursysteme, in denen Lungenepithelzellen ähnlich wie im Körper als dreidimensionale Struktur wachsen können. Mit einem solchen System lassen sich reale Bedingungen besser simulieren, als wenn die Zellen in Kulturschalen nur zweidimensional wachsen. Irgendwann, so die Idee, kann man damit zum Beispiel erforschen, welchen Einfluss die Mikroumgebung und die dreidimensionale Struktur auf das Wachstum von Tumoren haben.
Falsch verteilte oder strukturell veränderte Chromosomen bezeichnen Experten auch als chromosomale Instabilität, kurz CIN. Patienten, in deren Krebszellen dieses Phänomen auftritt, haben in der Regel einen ungünstigen Krankheitsverlauf, und Therapien sprechen bei ihnen oftmals weniger gut an. Doch das ist nur eine Seite der Medaille, wie die Forscher um Sotillo zeigten: Das häufigste Resultat der CIN ist, dass die Zelle abstirbt. Dabei handelt es sich um einen natürlichen Schutzmechanismus des Körpers, um schadhafte Zellen zu beseitigen. An Mäusen untersuchte das Team, wie sich ungleichmäßig verteilte Chromosomen bei Brustkrebs auswirken. Lösten die Forscher in den Brustdrüsenzellen Chromosomen-Fehlverteilungen aus, so überlebten viele Krebszellen diese Veränderung nicht. Somit hemmt CIN das Tumorwachstum. Doch nicht alle Krebszellen sterben. Die Wissenschaftler fanden heraus, dass sich Tumoren, die aus den überlebenden Zellen hervorgehen, sogar noch schwerer behandeln lassen. Ihr Wachstum ist zwar zunächst verzögert, doch dann sind sie kaum mehr zu stoppen. „Der Grund dafür könnte darin liegen, dass die Zellen durch die unterschiedlichen Chromosomensätze eine höhere Variabilität aufweisen“, erklärt Sotillo. Durch die vielen Veränderungen im Erbgut entstehen unterschiedliche Krebszellen mit unterschiedlichen Eigenschaften – auch solche, die der Therapie widerstehen können. Und genau diese Zellen setzten sich letztlich durch. Der Tumor wird gewissermaßen hartnäckiger und spricht schlechter auf die Behandlung an. „Aneuploidie bewirkt also auch, dass Krebszellen schneller resistent gegen Medikamente werden“, so Sotillo. Diese Erkenntnis sei eine der wichtigsten Ergebnisse ihrer Forschung der letzten Jahre.
Um das beobachtete Phänomen besser zu verstehen, nahm das Team ein Enzym namens PLK1 unter die Lupe. Es beeinflusst die korrekte Aufteilung der Chromosomen auf die Tochterzellen. Da PLK1 bei vielen Krebsarten in ungewöhnlich hohen Mengen vorkommt, stuften Experten das Molekül bislang als krebsfördernd ein und entwickelten Behandlungsstrategien, die auf das Enzym abzielen. Bei speziell gezüchteten Mäusen kurbelten Sotillos Mitarbeiter die Produktion von PLK1 an und störten dadurch die Verteilung der Chromosomen auf die Tochterzellen. Dies hemmte die Entwicklung von Brusttumoren. „Wir fanden also genau das Gegenteil dessen, was man bisher glaubte“, so Sotillo. „Man könnte nun schließen, dass PLK1 nicht als krebsfördernd einzustufen ist, sondern im Gegenteil den Tumor eher unterdrückt. Es ist aber durchaus möglich, dass diese Tumoren trotz ihres verzögerten Auftretens letztlich gefährlicher sind als solche, bei denen der PLK1-Spiegel im normalen Bereich liegt.“ Deshalb sei es nach wie vor sinnvoll, Substanzen, die die Aktivität von PLK1 hemmen, in bestimmten Fällen für die Therapie einzusetzen.
Dass die Ärzte für eine zielgerichtete Behandlung die molekularen Eigenschaften des Tumors kennen müssen, zeigen auch Arbeiten der Forschungsgruppe zum häufigsten bösartigen Tumor der Lunge, dem nicht-kleinzelligen Lungenkrebs. Bei fast jedem zehnten Patienten fusionieren zwei bestimmte Gene, die in dieser neuen Kombination das Tumorwachstum vorantreiben. Die Tumoren sprechen in der Regel gut auf zielgerichtete Medikamente an – allerdings entwickeln sich im Laufe der Behandlung in vielen Fällen Resistenzen. „Es gibt im Wesentlichen drei verschiedene Arten, wie die Gene aneinander gekoppelt sein können“, erklärt Sotillo. Daher wurde bereits vermutet, dass die jeweilige molekulare Variante der krebstreibenden Genfusion darüber entscheidet, ob sich eine Resistenz bildet. Und tatsächlich konnte Sotillos Team zeigen, dass bei Mäusen eine der drei Fusionen mit einem aggressiveren Verlauf in Verbindung steht. Und auch bei Patienten mit dieser Form der Genfusion haben die kooperierenden Forschungsgruppen in der Thoraxklinik bereits nachgewiesen, dass sich häufiger Metastasen bilden. Für diese Ergebnisse erhielten Sotillo und ihre Kollegen kürzlich gemeinsam den Takeda Oncology Award 2018. Das Komitee begründete seine Entscheidung damit, dass die Ergebnisse der Forscher bedeutende klinische Verbesserungen bei der personalisierten Therapie von Lungentumoren versprechen. Das Wissen darüber, was sich im Erbgut der Krebszellen im Detail verändert hat, könnte den Ärzten zukünftig dabei helfen, für jeden Patienten die passende Therapie zu finden.
// Janosch Deeg