Kein Ort für Erinnerungen?
Das kreative Gedächtnis – vom Datenspeicher zum Zukunftsorgan
Über 80 Milliarden Nervenzellen, die untereinander mehr als 100 Billionen Verbindungen ausbilden. Das Gehirn ist schon allein vom Zahlenwerk her betrachtet ein beeindruckendes Organ. Doch seine enorme Leistungskraft beruht nicht auf der schieren Anzahl seiner Zellen, sondern auf den Netzwerken, die es schaff t. einblick sprach mit der Neurobiologin Hannah Monyer über das Gedächtnis, die ihm innewohnende Kreativität und vermeintlich unveränderliche Gedächtnisinhalte.
Frau Professor Monyer, der Schriftsteller Max Frisch schreibt in seinem Roman „Mein Name sei Gantenbein“ einen bemerkenswerten Satz. Er lautet: „Jeder Mensch erfi ndet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.“ Passt das zur Neubewertung des Gedächtnisses, die Sie in Ihrem jüngst erschienenen Buch vornehmen?
Hannah Monyer: Ja, das passt. Das Gedächtnis formt kreativ etwas Neues aus dem, was ein Mensch erlebt, erfahren und erlernt hat. Es hält Inhalte nicht einfach in Schubladen bereit, um sie später wieder hervorzukramen, sondern es bearbeitet sie, es bereitet sie auf und ordnet sie neu. Das Gedächtnis wählt aus, was wir in Erinnerung behalten, und erstellt aus einem vorliegenden Material eine Gesamtdeutung. Letztlich bestimmt das Gedächtnis, wer wir sind oder was wir sein wollen.
Dann ist das Gedächtnis gar kein Speicherplatz für Erinnerungen?
Nein. Es kann sehr viel mehr. Das haben die Forschungsarbeiten der letzten zwei Jahrzehnte gezeigt. Unseres Erachtens handelt es sich beim Gedächtnis um eine aktiv gestaltende Hirnregion, die Vergangenes beständig an die Gegenwart anpasst und uns zukunftsfähig macht. „Das Gedächtnis ist die Zukunft der Vergangenheit“, so hat es der französische Philosoph Jules Valéry einmal ausgedrückt. Das beschreibt die Aufgabe des Gedächtnisses sehr gut.
Welche wissenschaftlichen Belege gibt es für diese neue Sichtweise?
Früher haben sich die Gedächtnisforscher in erster Linie dafür interessiert, wie auf der Ebene der Zellen kleinste molekulare Bausteine der Erinnerung entstehen. Seit rund zwei Jahrzehnten konzentrieren sich die Wissenschaftler mehr auf die komplexen Zusammenhänge und testen Netzwerke aus. Das wurde dank neuer Methoden und Techniken möglich, allen voran die Optogenetik. Sie kombiniert gezielte Genveränderungen mit optischen Effekten und erlaubt es, auch noch Zellen aufzuspüren, die irgendwo verstreut in einem Netzwerk stecken. Die modernen Verfahren wurden auch genutzt, um die Leistungen des Gedächtnisses systematisch und umfassend zu erkunden. Die Resultate dieser Forschungsarbeiten haben es notwendig gemacht, das Gedächtnis, seinen Charakter und seine Aufgaben zu überdenken.
Haben wir das Gedächtnis bislang vollkommen falsch verstanden?
Wenn man das Gedächtnis allein auf seine Funktion als Datenspeicher reduziert, tut man ihm Unrecht. Lange Zeit glaubte man beispielsweise, dass Erinnerungen im Gedächtnis der Reihe nach wie auf einem Tonträger oder einem Film abgelegt sind und dort auch so wieder abgerufen werden. Heute wissen wir, dass das Gedächtnis bereits während des Speicherns Einfluss nimmt, dass es Vieles auslässt oder ergänzt. Es arbeitet unablässig mit den ihm angebotenen Inhalten und verändert sie, ob am Tage oder nachts im Schlaf. Selbst dann, wenn wir eine vermeintlich sichere Erinnerung aus den Tiefen des Gedächtnisses hervorholen, wird sie nicht wieder so zurückgelegt wie zuvor, sondern verändert und in den aktuellen Kontext eingebettet.
Dann können wir uns auf unsere Erinnerungen gar nicht verlassen?
Als Speicher für so etwas wie die reine Wahrheit taugt unser Gedächtnis nicht. Wir können uns nicht ohne Weiteres auf unsere Erinnerung verlassen – jeder von uns weiß das.
Wenn Erinnern nicht die Kernaufgabe des Gedächtnisses ist – welche ist es dann?
Es sammelt nicht in erster Linie Daten und Fakten – es fängt etwas mit ihnen an. Mit seiner kreativen Flexibilität richtet uns das Gedächtnis auf die Zukunft aus: Es befähigt uns, Erfahrungen der Vergangenheit in einen aktuellen Zusammenhang zu stellen und anstehende Aufgaben anzupacken. So bereitet es uns auf das weitere Vorgehen im Leben vor. Es hilft uns, einen guten Plan zu machen.
Das Gedächtnis – ein Zukunftsplaner?
So könnte man es ausdrücken. Auch dabei fungiert das Gedächtnis nicht als bloßer Dienstleister, der passende Erinnerungen zu Vorhaben liefert, die wir uns ausgedacht haben. Es organisiert und kombiniert Inhalte, arbeitet flexibel zu, orientiert sich an dem, was gerade gefragt ist, und schafft so die Grundlage für Entscheidungen und brauchbare Vorhersagen. Es ist ein Agent der Deutung – der unauffällig und unbemerkt im Hintergrund agiert. Auffällig wird es erst dann, wenn das Gedächtnis seinen gewohnten Dienst versagt.
Wenn ich nicht mehr abrufen kann, wohin ich meinen Schlüssel gelegt habe, wenn ich einen Termin vergesse oder mir partout der Name eines Bekannten nicht mehr einfallen will, den ich zufällig getroffen habe?
Das sind Kleinigkeiten, vermeintliche Versäumnisse und Gedächtnislücken, die man am besten gar nicht weiter beachtet. Sie sind geradezu ein Beleg dafür, dass das Gedächtnis andere Aufgaben hat und sich um Wichtigeres kümmern muss, als den Ort für einen Schlüssel zu memorieren, einen von zig Terminen parat zu halten oder den Namen eines von vielen Menschen spontan zu wissen.
Wenn ein Gehirn fünfzig, sechzig oder siebzig Jahre alt geworden ist, dann wird es – wie alle anderen Organe des Körpers auch – Zeichen des Alterns zeigen. Ich wundere mich immer darüber, dass Menschen annehmen, ausgerechnet das Gehirn sei von alternsbedingten Veränderungen ausgenommen. Hinzu kommt: Wenn wir älter werden, werden auch unsere Aufgaben anspruchsvoller. Unser Gedächtnis legt sein Hauptaugenmerk immer auf die Dinge, die jetzt zählen, – das können im Alter etwa die großen Zusammenhänge sein, die es zu bedenken und neu auszurichten gilt. Nur dann, wenn das Gedächtnis ganz versagt – etwa bei Krankheiten wie Alzheimer – sind wir verlassen. Wir verlieren die Basis für unsere Entscheidungen, finden keine Lösungen mehr, und das Leben fällt unaufhaltsam auseinander.
Gibt es etwas, was man tun kann, um die Kreativität des Gedächtnisses bis ins hohe Alter zu sichern?
Gehirn und Gedächtnis lassen sich trainieren – wie ein Muskel, der umso kräftiger wird, je häufiger man ihn beansprucht. Das Hirn behält dadurch seine Plastizität, also die Fähigkeit, auf Veränderungen zu reagieren und sich neuen Bedingungen anzupassen. Das ist die Grundlage aller Lernprozesse. Dafür braucht es mentale Impulse. Man kann sich beispielsweise vornehmen, eine neue Sprache oder ein neues Musikinstrument zu erlernen. Äußerst wichtige Impulsgeber sind auch physische Aktivitäten, also Sport und Bewegung, eine anregende Umgebung und vielfältige soziale Kontakte. Alles was neu ist, erfordert Anpassungsreaktionen und kommt der Hirnfunktion und dem Gedächtnis zugute.
Zeigt sich das Training tatsächlich auch in größerer Masse, also in Gestalt von mehr Nervenzellen?
Wir konnten das hier im Deutschen Krebsforschungszentrum kürzlich in einem Tiermodell eindrücklich zeigen: Mäuse, denen in ihren Käfigen eine abwechslungsreiche Umgebung geboten wird, mit Laufrädern, Spielsachen und anderen Reizen, bilden mehr Nervenzellen im Hippocampus aus als ihre Artgenossen, die in kargen Käfigen ohne anregende Umgebung leben – der Hippocampus ist genau die Hirnregion, in der die Gedächtnisbildung und das Lernen verortet werden, auch beim Menschen. Die Neubildung der Nervenzellen wird bei den Mäusen von einem kleinen Molekül namens DBI vermittelt. Es wird im Hirn als Reaktion auf einen äußeren Reiz gebildet und veranlasst, dass sich Nerven-Stammzellen und Nerven-Vorläuferzellen vermehren. Ob die Neubildung von Nervenzellen auch beim Menschen im Erwachsenenalter vorkommt, wird derzeit kontrovers diskutiert.
Was ist hinsichtlich des Gedächtnisses das größte Versäumnis der Forschung?
Dass man es so lange und so massiv als bloßen Aktenschrank für verstaubte Erinnerungen unterschätzt hat. Das Gedächtnis ist ein kreatives, sich immer wieder neu formierendes Netzwerk, ein unverzichtbarer, sich aktiv einmischender Lebensplaner. Seinem wahren Charakter in künftigen Arbeiten besser gerecht zu werden, ist eine Aufgabe, die womöglich auch Lösungen für Probleme finden lässt, bei denen man in der Forschung bislang ohne jede Aussicht auf Erfolg auf der Stelle tritt – beispielsweise bei der Behandlung von Alzheimer.
Das Interview führte // Claudia Eberhard-Metzger