Wir können die Uhr nicht zurückdrehen
Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko, an Leukämie zu erkranken. Doch welcher Mechanismus verknüpft diese beiden Prozesse? Der DKFZ-Forscher Michael Milsom glaubt, dass die Ursache in den Blutstammzellen liegt. Infektionen, Blutverlust oder Entzündungen stressen die Stammzellen. Sie müssen sich immer häufiger teilen und sammeln dabei Mutationen an.
Jeder Mensch altert, jeden Tag. Manche langsamer, andere schneller. Anfangs sind die Änderungen nur klein, kaum wahrnehmbar. Die Haut wirft Falten. Die Haare ergrauen. Altersflecken zieren die Hände. Alles nur Äußerlichkeiten, alles nicht so schlimm. Schlimmer sind aber manche Veränderungen, die sich anfangs unsichtbar abspielen. Im fortgeschrittenen Alter machen sie sich dann bemerkbar: Schon harmlose Erreger können das Immunsystem an den Rand seiner Kräfte bringen. Und ab dem sechzigsten Geburtstag kommt es vermehrt zu Herzerkrankungen, Schlaganfällen oder Krebs. Wie diese Krankheiten entstehen, ist vor dem Hintergrund der beständig alternden Gesellschaft in westlichen Ländern eine immer drängendere Frage. Die Lebenserwartung steigt, doch kerngesund altern die wenigsten. „Wir lernen immer mehr über das Altern, aber wir haben den Prozess noch nicht richtig verstanden“, sagt Michael Milsom. Er leitet die Abteilung Experimentelle Hämatologie, die am DKFZ und am Heidelberger Stammzellinstitut HI-STEM angesiedelt ist. Milsoms Spezialgebiet sind die Stammzellen des blutbildenden Systems, sogenannte hämatopoetische Stammzellen. Menschen werden mit einem Überschuss an diesen Stammzellen geboren. Sie versorgen den Körper ein Leben lang mit neuen Blutzellen. Man weiß seit den 1950er Jahren, dass sie das selbst dann noch tun, wenn man sie einem Menschen entnimmt und bei einem anderen Menschen einsetzt. Leukämiepatienten erhalten deshalb Blutstammzellen eines Spenders. Die Zellen stammen entweder aus dessen Blut oder aus dem Knochenmark, denn dort findet die Blutbildung statt. Es gibt Zeiten, da haben die Blutstammzellen fast nichts zu tun. Ihr Stoffwechsel läuft auf Sparflamme. Sie dämmern vor sich hin und warten auf ihren Einsatz. Der kommt zum Beispiel dann, wenn eine Virusinfektion durch den Körper wirbelt und weiße Blutkörperchen in großer Zahl den Kampf mit den Erregern aufnehmen. Oder wenn der Körper durch eine Wunde Blut verliert. Jetzt erwachen die Blutstammzellen, sie teilen sich und regenerieren die fehlenden Blutzellen. Anschließend fallen sie in ihren Dämmerzustand zurück. Doch der Einsatz kann Spuren hinterlassen.
Gestresste Stammzellen
Jedes Mal, wenn eine Zelle sich teilt, muss sie dazu ihren etwa einen Meter langen Erbgutfaden verdoppeln. Sie muss jeden einzelnen der insgesamt 3,2 Milliarden Bausteine möglichst exakt kopieren. Dazu wird der doppelsträngige, eng gewickelte DNA-Strang zunächst entwirrt und in zwei einzelne Stränge aufgespalten. Komplexe Enzyme füllen dann jeden der beiden Einzelstränge wieder zu zwei neuen Doppelsträngen auf. Das passiert rasend schnell, zwischen 50 und 100 Bausteine pro Sekunde schaffen die Enzyme in menschlichen Zellen. Sie arbeiten hochpräzise, aber perfekt sind sie nicht. Hin und wieder unterläuft ihnen ein Fehler und sie bauen einen falschen Baustein in die DNA ein. Auch auf anderen Wegen schleichen sich Mutationen ins Erbgut. Wenn der Stoffwechsel auf Hochtouren läuft und die Kraftwerke der Zelle Energie produzieren, dann entstehen als Nebenprodukt sehr reaktionsfreudige Sauerstoffverbindungen. Gelingt es der Zelle nicht, diese frühzeitig abzufangen, können sie das Erbgut schädigen. Die meisten dieser Fehler bemerken und korrigieren die Zellen. Andere rutschen durch. „Durchschnittlich 14 Mutationen pro Jahr sammeln sich in einer menschlichen Blutstammzelle an“, erläutert Milsom. „Bei einem 50-Jährigen Menschen macht das etwa 700 Mutationen pro Zelle.“ Meist sind die Veränderungen harmlos und bleiben für immer unentdeckt. Doch manchmal sind die Folgen schwerwiegend. Denn im Erbgut ist der Bauplan der Proteine gespeichert, und durch Veränderungen können die molekularen Maschinen ihre Funktion verlieren. Zudem befinden sich in der DNA Steuerelemente, über die die Zelle reguliert, wann und in welchen Mengen bestimmte Proteine gebildet werden. Auch hier kann ein Fehler fatale Konsequenzen haben und das Gleichgewicht der Zelle empfindlich stören. Vor kurzem hat Michael Milsom gezeigt, dass schädliche Einflüsse wie Infektionen oder Entzündungen die Blutstammzellen dazu zwingen, sich besonders schnell und oft zu teilen. Dieser Stress erhöht die Rate an DNA-Schäden, und das kann wiederum zu Krebs führen. Milsom nutzte für seine Experimente Mäuse, die an einer Erkrankung leiden, die der Fanconi-Anämie beim Menschen ähnelt. Bei Patienten mit Fanconi-Anämie beginnt das blutbildende Knochenmark schon in frühen Jahren zu versagen. Sie leiden unter Blutarmut und erkranken später häufig an Leukämie oder anderen Krebsarten. Dafür verantwortlich sind Defekte im DNA-Reparatursystem.
Milsom und sein Team vermuteten, dass erbgutschädigende Einflüsse bei Blutstammzellen schnell Symptome zeigen sollten, wenn diese die Schäden nur unzureichend reparieren können. Die Forscher setzten die Fanconi-Mäuse deshalb Einflüssen aus, die das blutbildende System stressen, zum Beispiel einer Virusinfektion. Dann beobachteten sie, wie sich die Blutstammzellen veränderten. „Eine einzelne Infektion, ein Blutverlust oder ein anderer singulärer Stressfaktor stellt für die Blutstammzellen kein Problem dar“, erklärt Milsom. Doch wenn die Mäuse wieder und wieder gestresst werden, wenn die Blutstammzellen ihren Dämmerzustand ständig verlassen und sich teilen, dann summieren sich die DNA-Schäden extrem schnell. Irgendwann sind einige Blutstammzellen der Mäuse so stark mutiert, dass der Körper sie freiwillig vernichtet. Eine Vorsichtsmaßnahme, besser weg als außer Kontrolle. Die verbleibenden Blutstammzellen müssen infolgedessen immer härter arbeiten, um das Blutsystem mit Zellnachschub zu versorgen. Es beginnt ein Teufelskreis, denn durch die höhere Teilungsrate kommt es wiederum zu weiteren Mutationen. Verpasst der Körper es dann, die mutierten Zellen rechtzeitig auszusortieren, kann Krebs entstehen. Die Ergebnisse dieser Studien lassen sich auch auf den Menschen übertragen. Menschen mit chronischen Erkrankungen wie Tuberkulose oder Hepatitis, bei denen die Blutstammzellen ständig gefordert werden, haben dadurch ein höheres Risiko, an Krebs zu erkranken. Genau wie ältere Menschen, deren Blutstammzellen im Laufe ihres langen Lebens Mutationen angehäuft haben oder bereits vom Körper vorsorglich vernichtet worden sind. Je weniger Blutstammzellen ein Mensch noch hat, desto anfälliger ist das System für neue Erschütterungen. „Jedes Mal, wenn eine Stammzelle sich teilt, hat sie wieder die Gelegenheit, Fehler zu machen“, sagt Milsom. Um möglichst gesund zu altern wäre es also gut, wenn die Stammzellen so wenig wie möglich aktiv werden. Hier könnten neue Therapien ansetzen. Eine große Herausforderung bei diesem Forschungsthema ist die Zeit. „Es dauert sehr lange, bis jemand altert“, sagt Milsom halb im Scherz. „Das bei Menschen wissenschaftlich zu begleiten, ist nahezu unmöglich.“ Mit Mäusen geht es schneller, Alterungserscheinungen zeigen sich nach 18 bis 24 Monaten. Die Fanconi-Mäuse sind deshalb ein ideales Modell, um zu untersuchen, wie Blutstammzellen auf unterschiedliche Arten von Stress reagieren, wie das Gewebe altert und wann bösartige Tumoren entstehen. Daraus erhofft Milsom sich neue Erkenntnisse darüber, wie man das Krebsrisiko reduzieren könnte. Langfristig hat er sich zum Ziel gesetzt, das komplexe Phänomen des Alterns besser zu verstehen. Das könnte dazu beitragen, Menschen ein gesundes Altern zu ermöglichen. „Viele Leute sagen, dass wir eines Tages nicht mehr altern werden, dass wir alte Zellen verjüngen werden, aber daran glaube ich nicht“, erklärt er. „Wir können die Uhr nicht zurückdrehen. Aber vielleicht gelingt es uns, den Prozess zu verlangsamen.“
// Claudia Doyle