Über Grenzen hinweg
Europas größtes Uniklinikum, mehr als 100 Kliniken und Institute, 13.000 Beschäftigte und eine über 300-jährige Geschichte: die Berliner Charité ist eine beeindruckende Institution. In der Krebsmedizin zählt sie zu Deutschlands führenden Adressen. Als sich vor drei Jahren das DKFZ mit acht Universitätskliniken zum Deutschen Konsortium für translationale Krebsforschung (DKTK) zusammengeschlossen hat, war das Charité Comprehensive Cancer Center (CCCC) mit von der Partie.
Je besser Wissenschaftler und Ärzte verstehen, wie eine Zelle entartet, wie sie sich unkontrolliert vermehrt und in gesundes Gewebe eindringt, desto klarer wird: Jede Krebserkrankung ist anders. Deshalb sind sich die Forscher inzwischen einig, dass die Zukunft Therapien gehört, die exakt auf den einzelnen Patienten zugeschnitten sind. Damit das gelingen kann, müssen Spezialisten verschiedener Fachrichtungen die Behandlung begleiten. Onkologen, Chirurgen, Strahlentherapeuten, Radiologen, Molekularbiologen, Genetiker und weitere Experten: Gemeinsam suchen sie nach der optimalen Strategie.
Verschiedene Disziplinen – ein Ziel
Aus diesem Grund hat man sich in Berlin bereits 2008 entschlossen, ein umfassendes Zentrum für Tumorerkrankungen zu gründen: das Charité Comprehensive Cancer Center (CCCC). Dieses koordiniert und organisiert die Zusammenarbeit aller Charité-Zentren, die sich mit Krebs beschäftigen. Prof. Dr. Ulrich Keilholz, kommissarischer Direktor des CCCC, erklärt: „Die Aufgabe des Zentrums besteht darin, klinische und akademische Onkologie an der Charité zusammenzuführen.“ Aktuelle Forschungsergebnisse sollen dadurch möglichst schnell den Weg in die Klinik finden.
Dieses Ziel hat sich auch das DKTK auf die Fahnen geschrieben. Die acht Partnerstandorte möchten deshalb ihre Kräfte bündeln: Gemeinsame Forschungsprogramme sollen vielversprechende Ansätze aus der Grundlagenforschung für die Diagnose und Therapie von Krebs schneller verfügbar machen. Einzelne Einrichtungen bieten zudem ihre Infrastruktur als Service an und machen damit wichtige Techniken für alle Zentren verfügbar. Die verschiedenen Standorte bringen dabei unterschiedliche Stärken in das Konsortium ein. Eine Stärke des CCCC ist die Systembiologie. In diesem Forschungsgebiet stehen nicht mehr einzelne Gene oder Proteine im Mittelpunkt, sondern das gesamte Netzwerk, über das sie miteinander kommunizieren. Gerät dieses komplexe Gefüge aus dem Gleichgewicht, kann das gravierende Folgen für den Organismus haben, beispielsweise wenn sich Zellen unkontrolliert vermehren. „Deshalb spielt die Systembiologie auch in der Krebsforschung eine immer größere Rolle“, erläutert Prof. Dr. Reinhold Schäfer. Der stellvertretender Direktor des CCCC und Sprecher des DKTK-Standorts Berlin beschreibt einen neuen Forschungsansatz: „Derzeit versuchen wir herauszufinden, wie man den Stoffwechsel einer Tumorzelle dahingehend manipulieren kann, dass wir den Tumor sozusagen aushungern.“
Neue Therapien für Kinder und Jugendliche
Neue Therapien haben insbesondere bei Kindern und Jugendlichen dafür gesorgt, dass ihre Heilungschancen inzwischen sehr gut sind. Vier von fünf jungen Krebspatienten werden wieder gesund – deutlich mehr als bei den Erwachsenen. Zu den häufigsten Krebsarten in dieser Altersgruppe zählen Leukämien und Tumoren des Nervensystems, wie zum Beispiel die Neuroblastome. Die onkologische Kinderklinik der Charité hat sich auf diese beiden Bereiche besonders fokussiert. Prof. Dr. Angelika Eggert leitet die Klinik seit 2013. Sie zeigt sich ehrgeizig: „Unser Ziel muss es sein, langfristig Heilungsraten von 100 Prozent zu erreichen.“
Eine große Herausforderung
Um sich diesem Ziel zu nähern, forscht ihre Arbeitsgruppe an individualisierten Therapien für Neuroblastome. Nachdem Kombinationen aus Strahlen- und Chemotherapie in den letzten Jahrzehnten die Überlebensraten deutlich verbessert haben, sind die Möglichkeiten, diese Behandlungen weiter zu optimieren, inzwischen begrenzt. Neue Konzepte sollen die Erfolgsgeschichte fortsetzen. Ein möglicher Schlüssel zum Erfolg liegt darin, die Besonderheiten der Tumorzellen zu identifizieren. Das können zum Beispiel spezielle Proteine sein, welche die Krebszellen aufgrund ihrer veränderten Gene herstellen. Ziel der Therapie ist es dann, nur Zellen mit genau diesem Merkmal zu töten. Keine leichte Aufgabe, doch Angelika Eggert mangelt es nicht an Motivation: „Was uns bei der Forschung anspornt, sind die krebskranken Kinder auf unseren Stationen.“
Besonders schwierig ist die Behandlung, wenn Kinder nach einer zunächst erfolgreichen Behandlung erneut an Krebs erkranken. Die zweite Therapie ist dann oft weniger wirksam – der Tumor hat gelernt, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Eine Studie des DKTK, die den Namen INFORM trägt, soll diesen Kindern hoffentlich eine zweite Chance geben. Gemeinsam mit Heidelberger Kollegen koordiniert Eggert die Studie.
Der erste Schritt besteht für die Forscher darin, herauszufinden, warum der Tumor auf die Behandlung nicht anspricht. Dazu suchen sie nach sämtlichen Veränderungen in den Genen der Krebszellen. Ein wichtiges Ergebnis: Bei einem Rückfall weisen Tumoren im Vergleich zur primären Erkrankung deutlich mehr genetische Veränderungen auf. Sie sind gewissermaßen zu Spezialisten darin geworden, sich der Therapie zu entziehen. Doch die Wissenschaftler kennen nun ihren Feind. „Wir haben jetzt Anhaltspunkte, an welchen Stellen wir die Widerstandskraft der aggressiven Rückfalltumoren mit neuen Medikamenten angreifen können“, erklärt Eggert. Auch wenn der Weg weit ist, besteht damit Hoffnung, zukünftig noch mehr Kindern und Jugendlichen helfen zu können.
Die Medizinerin Eggert erzählt, dass viele Menschen nicht verstehen, wie ihr die Arbeit mit krebskranken Kindern Spaß machen könne. „Natürlich ist es bedrückend, wenn Kinder so schwer krank sind. Aber zum Glück haben wir ja auch immer wieder schöne Momente und Erfolgserlebnisse. Uns macht es vor allem Spaß daran zu arbeiten, dass solche Erlebnisse noch öfter vorkommen.“
Text. Julia Ohmes