Kleiner Fehler - große Wirkung
Eine kleine Veränderung reicht aus, damit ein Stoffwechselenzym zur Ursache einer Krebserkrankung werden kann. Wenn Gut und Böse sich so sehr ähneln, ist es meist schwierig, die mutierte Form gezielt anzugreifen. Forschern des DKFZ und der Firma Bayer ist es dennoch gelungen, einen Wirkstoffkandidaten zu entwickeln, der genau dies tut.
Das Enzym Isocitrat-Dehydrogenase 1 (IDH1) hat eine klar definierte Aufgabe: Es soll Molekül A in Molekül B umwandeln und dabei Energie auf Molekül C übertragen. Der Energieträger C und das Molekül B stehen der Zelle dann für ihre vielfältigen Aufgaben zur Verfügung. In einer menschlichen Zelle besteht die molekulare Maschine IDH1 aus 414 einzelnen Bausteinen, den Aminosäuren. Wird es strikt nach Bauplan zusammengesetzt, dann faltet sich das Enzym zu einer komplexen dreidimensionalen Struktur, in der jeder Baustein eine ganz bestimmte Position einnimmt. Nur so kann die Maschine ihre Arbeit verrichten.
In vielen Krebszellen enthält der Bauplan für IDH1 jedoch einen Fehler: Die Aminosäure, die an Position 132 üblicherweise dafür sorgt, dass das Enzym Molekül A umwandelt, wird durch eine Aminosäure ersetzt, die dies verhindert. Stattdessen verwendet das Enzym Molekül B und produziert große Mengen einer Substanz, die die Zelle nicht benötigt. Und das bleibt nicht ohne Konsequenzen: Das fälschlicherweise gebildete Molekül stört viele wichtige Prozesse. Es hindert zum Beispiel andere Enzyme an ihrer Arbeit. Die Zelle kann dadurch vollends aus dem Gleichgewicht geraten. Mechanismen, die in gesunden Zellen die Zellteilung kontrollieren, können ausgehebelt werden. Im schlimmsten Fall entsteht dann Krebs.
Bösartige Zellen treffen, gesunde verschonen
Schon vor einigen Jahren hat es Hinweise darauf gegeben, dass die mutierte Form der IDH1 bei bösartigen Gehirntumoren gehäuft auftritt und sogar ursächlich für die Erkrankung verantwortlich sein könnte. Das Enzym rückte deshalb als mögliches Ziel von Krebstherapien in den Fokus der Wissenschaftler. So könnte eine spezielle Impfung das Immunsystem der Patienten gezielt gegen Zellen scharfmachen, die das mutierte Enzym bilden. Einem Team um Michael Platten, der die Neurologische Klinik an der Universitätsmedizin Mannheim und eine Klinische Kooperationseinheit im DKFZ leitet, gelang es, einen entsprechenden Impfstoff zu entwickeln. Die Neuroonkologen testen diesen derzeit in einer klinischen Phase I-Studie. Andreas von Deimling, Ärztlicher Direktor am Universitätsklinikum Heidelberg und Leiter der Klinischen Kooperationseinheit Neuropathologie im DKFZ, und sein Mitarbeiter Stefan Pusch wählten einen anderen Ansatz. Ein geeigneter Wirkstoff sollte das fehlerhafte Enzym daran hindern, die krebsfördernde Substanz zu bilden. Doch die Wissenschaftler standen vor einer großen Herausforderung: Sie mussten eine Substanz finden, die das veränderte Enzym hemmt, aber die Arbeit der normalen Variante nicht beeinflusst. 414 Bausteine, und nur ein einziger ist verändert. Kann es ein Molekül geben, das selektiv nur auf die mutierte Variante wirkt? Die Wissenschaftler waren davon überzeugt. In einer Forschungsallianz mit der Firma Bayer machten sie sich gemeinsam auf die Suche nach der Nadel im Heuhaufen.
Kompetenzen vereinen
Im Rahmen der Kooperation konnten dann beide Seiten ihre jeweiligen Stärken in das Projekt einbringen. Die Forscher des DKFZ etablierten unter anderem ein realitätsnahes Modell der Tumorerkrankung, um daran Wirkstoffkandidaten testen zu können. Zudem entwickelten sie ein Verfahren, mit dem sich die Menge der krebsfördernden Substanz bestimmen ließ. Die Experten von Bayer wiederum konnten auf umfangreiche Erfahrungen zurückgreifen, als es darum ging, ein Molekül zu finden und chemisch zu optimieren, das sich in die Struktur des Enzyms einfügt und seine Arbeit blockiert. Von unschätzbarem Wert war dabei eine Bibliothek mit etwa 4 Millionen unterschiedlichen Molekülen, über die das Unternehmen verfügt. Mithilfe von Hochdurchsatzverfahren gelang es, einen mutmaßlich hochselektiven Wirkstoffkandidaten zu identifizieren. Erste Versuche mit Mäusen, denen die Forscher Zellen aus menschlichen Gehirntumoren, sogenannten Astrozytomen, übertragen hatten, verliefen bereits erfolgreich: Der Wirkstoff senkte die Konzentration der krebsfördernden Substanz in den Tumorzellen. Die Tiere vertrugen die Behandlung gut und überlebten signifikant länger als unbehandelte Artgenossen. Da gegen Astrozytome mit den heute verfügbaren Medikamenten nichts auszurichten ist, besteht hier großer Bedarf an innovativen Therapien. Nach den vielversprechenden Ergebnissen aus den Tierversuchen werden derzeit zwei klinische Studien der Phase 1 durchgeführt. Eingeschlossen sind Patienten mit einer nachgewiesenen IDH1-Mutation, die an einem soliden Tumor beziehungsweise an einer bestimmten Form der Leukämie (AML) erkrankt sind. Die Studien sollen zeigen, ob der Wirkstoffkandidat verträglich ist und in welcher Dosis er eingesetzt werden kann.
// Frank Bernard