Randomisierte kontrollierte Studien gelten als Goldstandard in der klinischen Forschung. Verglichen werden zwei nach dem Zufallsprinzip zusammen gestellte Gruppen mit ähnlichen Merkmalen. Bei einer der beiden Gruppen – nicht jedoch bei der Kontrollgruppe – erfolgt die zu prüfende Intervention, eine bestimmte Therapie, zum Beispiel, oder eine Vorsorgeuntersuchung wie in diesem Fall.
NordICC: wichtige Studie mit Schwachpunkten
Mit Spannung waren vor diesem Hintergrund die Ende 2022 veröffentlichten Ergebnisse der NordICC-Studie erwartet worden, der ersten kontrollierten randomisierten Langzeit-Studie zur Effektivität der Darmspiegelung als Darmkrebsvorsorge.
Insgesamt 85.179 Männer und Frauen im Alter zwischen 55 und 64 Jahren, bei denen keine Darmkrebs-Diagnose bestand, wurden in den nationalen Registern von Polen, Norwegen und Schweden für die NordICC-Studie rekrutiert. Nach dem Zufallsprinzip wurden sie zwei Gruppen zugeteilt: Ein Drittel der Studienteilnehmer erhielten eine Einladung zu einer einzelnen Vorsorge-Koloskopie, zwei Drittel erhielten keine Einladung. Dann wurde anhand entsprechender Meldungen in den nationalen Krebsregistern verglichen, wie viele Personen in den beiden Gruppen jeweils neu an Darmkrebs erkrankten, was Rückschlüsse auf die Effektivität des Screening-Angebots erlaubt.
Wie erwartet, waren die Darmkrebsraten in der Interventionsgruppe signifikant niedriger als in der Kontrollgruppe. Allerdings war der berichtete präventive Effekt – verglichen mit den Beobachtungen in zahlreichen früheren Studien – weniger ausgeprägt.
Woran kann das liegen? Diese Frage beschäftigt Wissenschaftler seither intensiv. Hermann Brenner, Epidemiologe am DKFZ, hat bereits einige methodische Schwächen der NordICC-Studie aufgedeckt, und er setzt jetzt noch eins drauf. Bei der Erfassung neuer Krebserkrankungen in den Krebsregistern kommt es erfahrungsgemäß häufig zu Verzögerungen. Diese Verzögerung könnte – wie Brenner und Mitarbeiter in einer aktuellen Analyse zeigen – ein weiterer Grund dafür sein, dass die Effektivität der Koloskopie in der NordICC-Studie erheblich unterschätzt wurde.
Register hinken hinterher
Aus früheren Studien war bekannt, dass bei der Erfassung neuer Krebserkrankungen in nationalen Krebsregistern einige Zeit – größenordnungsmäßig durchschnittlich rund zwei Jahre - zwischen Diagnosestellung und Registrierung vergeht. Auch in der NordICC Studie mussten 221 Teilnehmer nachträglich ausgeschlossen werden, weil ihre bereits vor der Randomisierung diagnostizierten Darmkrebserkrankungen erst nachträglich in den Registern erfasst wurden.
Es ist davon auszugehen, dass die Erfassung der Darmkrebserkrankungen über die Krebsregister auch im Follow-up der NordICC-Kohorte durch Verzögerungen der Registrierung hinterherhinkte. Bei einer durchschnittlich zweijährigen Verzögerung läge die tatsächliche Nachbeobachtungszeit nicht bei zehn, sondern eher nur bei acht Jahren.
Dies gilt gleichermaßen für die Interventions- wie für die Kontrollgruppe – doch die Darmkrebsinzidenz entwickelt sich bei beiden Gruppen unterschiedlich, so dass die Differenz mit längerer Nachverfolgungszeit immer ausgeprägter wird. Der tatsächlich festgestellte Screening-Effekt entspricht also eher dem Wert eines Follow-ups von ca. acht und nicht von zehn Jahren und unterschätzt daher die Risikoreduktion deutlich.
„Wenn man diese Verzögerungen in der Analyse der Studie angemessen berücksichtigt“, betont Hermann Brenner, „so kommt man zu vergleichbar starken Effekten, wie man sie in klinischen und epidemiologischen Studien seit langem beobachtet hat.“
Brenner H, Thomas Heisser, Michael Hoffmeister: Delayed Cancer Registration and Estimation of Screening Colonoscopy Effects. JAMA Network Open 2024, https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/39352704/